„Ich würde zu Hause bleiben, wenn ich ein Zuhause hätte.“ – Einblicke in die ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit auf Samos & in Köln

Fotos: © Jérôme FourcadeCollectif Abisto 

Sonntag, 15.03.2020 Samos
Ich würde zu Hause bleiben, wenn ich ein Zuhause hätte.“ sagt Ehsan aus Afghanistan. Er ist seit einem Monat auf Samos und teilt sich mit zwei weiteren jungen Männern ein kleines Zelt im Camp. Wir stehen mit zwei Meter Abstand an der Ausgabe der Babywindeln. Refugees4 Refugees organisiert diese Spendenvergabe regelmäßig. Heute unter besonderen Bedingungen: Auf dem Bürgersteig sind alle zwei Meter Markierungen, damit die Wartenden den empfohlenen Sicherheitsabstand einhalten. Die Maßnahme erscheint in Corona-Zeiten sehr sinnvoll. Zeitgleich wirkt sie aber auch absurd, da die Menschen 500 Meter weiter, im Camp, in drangvoller Enge und katastrophalen sanitären Umständen leben müssen. Aber wenn der Sicherheitsabstand nicht eingehalten wird, wird die Windelausgabe sofort von der Polizei geschlossen.

Für mich ist dieser Einsatz der letzte auf Samos. Inzwischen mussten fast alle ehrenamtlich getragenen Angebote schließen und das öffentliche Leben ist völlig heruntergefahren. Es herrscht Angst, dass der Virus auch auf Samos ausbrechen kann. Ein Samiote lacht, als ich sage, wir Freiwilligen sind aufgefordert worden, die Insel zu verlassen, um im Notfall kein Bett im Krankenhaus zu belegen. „Du denkst, in diesem Krankenhaus kann man dir dann helfen? Du gehst mit Kopfschmerzen oder einem gebrochenen Fuß dorthin, aber nicht mit einer ernsthaften Erkrankung. Sie werden uns hier einfach sterben lassen.“

Vielleicht denken andere anders. Aber alle, mit denen ich spreche, habe Angst. Besonders im Camp. Sich wie empfohlen zu schützen, geht nicht: Zwei Meter Abstand zu anderen, regelmäßig Hände waschen und möglichst wenig soziale Kontakte sind schwer möglich, wenn man sich das Zelt mit anderen teilen muss oder stundenlang in der Essensschlange steht. Auch wenn noch so viele gute Videos und Handzettel in allen möglichen Sprachen darüber informieren.

Freitag, 20.03.2020, Köln
Ich bin wieder in Köln. Sicher in meinen vier Wänden, versorgt mit Lebensmitteln, Strom und Internet, telefonisch und online gut im „sozialen Kontakt“ . Den Umständen entsprechend geht es mir sehr gut. Ich kann mich entscheiden, ob ich mich (und andere) schütze, indem ich einfach mal zu Hause bleibe. Ehsan kann das nicht. Wie die anderen ca. 7000 Menschen, die im Camp auf Samos leben müssen, fürchtet er den Ausbruch des Virus.

Was können wir machen?

Einige Petitionen sind schon gestartet, erste Aktionen geplant. Das Mitmachen ist ganz einfach und geht von jeder Wohnung aus:

Samstag, 21.03.2020: Banneraktion anlässlich des internationalen Tags gegen Rassismus
Zeigt Solidarität mit Schutzsuchenden an der EU-Außengrenze und in den griechischen Lagern und tragt am Samstag die Botschaft von der Wohnungen aus auf die Straßen, die Innenhöfe und in die Öffentlichkeit. Es ist wichtig, nicht wegzuschauen, sondern Haltung zu zeigen, Position zu beziehen und solidarisch zu bleiben! Der Schutz von Grenzen darf nicht wichtiger sein als der Schutz von Menschenleben.

Mögliche Slogans, die verwendet werden können: #wirhabenplatz // Solidarität trotz Corona – Refugees welcome! //Grenzen auf – Lager evakuieren – Gesundheitsversorgung für ALLE!// Solidarität hier, jetzt und überall – auch für Schutzsuchende in Griechenland!// No dirty hands – no dirty deals! EU-Türkei-Deal stoppen! // Grenzen töten – sichere Fluchtwege schaffen! // Nein zur Festung Europa// Stop violence – open the border // .

Petitionen

#LeaveNoOneBehind: Jetzt die Corona-Katastrophe verhindern – auch an den Außengrenzen!
#LeaveNoOneBehind, aufgebaut von dem grünen EU-Abgeordneten Erik Marquardt, bezeichnet sich als die „soziale Bewegung für Solidarität in der Krise“ . Zu den Zielen der Bewegung gehört gleichermaßen die sofortige Evakuierung der Lager auf den ägäischen Inseln, wie die bestmögliche medizinische Corona-Versorgung für alle Menschen in Europa. Schon 141.396 Menschen haben in den ersten zwei Tagen die Petition unterzeichnet, darunter auch viele Prominente. In den kommenden Wochen soll einiges passieren – um Aufmerksamkeit zu schaffen, Druck zu erzeugen und Geld für Hilfsorganisationen zu sammeln. Zur Petition

Petition „Europe must act now“
Die Graswurzelinitiative „Act for education“, die seit 2 Jahren in Griechenland tätig ist, hat eine Petition an Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates und Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, gestartet. Sie fordern u.a. sofortige Maßnahmen aller Mitgliedstaaten zur Entlastung der Ägäischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros durch gerechte Umsiedlung von Asylbewerbern in alle europäischen Länder, die sofortige Bereitstellung und Überwachung der Aufnahme- und Identifikationszentren der griechischen Regierung durch die EU-Staaten sowie die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Registers von Rechts-, Medizin- und Schutzpersonal zur Unterstützung der griechischen Regierung. Link zu Petition

#SAVETHEM
MISSION LIFELINE startete am 08. März eine Evakuierungsmission für Kinder und Mütter aus Griechenland. Inzwischen stehen keine finanziellen Hürden mehr im Weg, die Spenden decken die Kosten eines Charterfluges von Lesbos nach Berlin. MISSION LIFELINE erwartet jetzt sofort Signale aus der Politik, die bislang weitgehend zu der Rettungsaktion geschwiegen hat. Link zu MISSION LIFELINE

Informationen

Stellungnahme des Kölner Flüchtlingsrat „Flüchtlingspolitische Forderungen angesichts der Corona-Krise und der Lage in Griechenland“
Der Kölner Flüchtlingsrat e.V. fordert angesichts der Corona-Krise:
1) Die Menschen in den Landeseinrichtungen müssen sofort kommunal zugewiesen werden!
2) Abschiebungen aus den Kommunen und aus den Landeseinrichtungen müssen verbindlich und vollständig ausgesetzt werden!
3) Alle Menschen in Köln und andernorts und darum auch Geflüchtete müssen nun ihren Leistungsanspruch zum Überleben und Obdach erhalten!
Angesichts der weiterhin dramatischen Situation von Geflüchteten in Griechenland fordert wir ihre sofortige Evakuierung aus den griechischen Elendslagern.  Link zur Stellungnahme

Es darf kein Recht zweiter Klasse geben Der Journalist Martin Gerner meint in seinem Kommentar im Deutschlandfunk „Bei den Schutzprogrammen hat man die Flüchtlinge scheinbar vergessen“ Link zum Kommentar (20.03.2020)

Appell zu 4 Jahren EU-Türkei-Deal und Covid-19: „Ultimative Aufforderung zum Handeln“
Anlässlich des vierjährigen Bestehens des EU-Türkei-Deals vom 18. März 2016 haben sich zahlreiche Vereine, Initiativen und NGOs in einem Appell an die europäische Öffentlichkeit gewandt. Sie kritisieren die derzeitige Eskalation auf den griechischen Inseln und an der griechisch-türkischen Grenze als das „absehbare Ergebnis einer jahrelangen desaströsen Politik“. Außerdem sei die drohende humanitäre Katastrophe durch einen möglichen Ausbruch des Covid-19-Virus in den Flüchtlingslagern eine „ultimative Aufforderung zu sofortigem Handeln“. Link zum Appell

Ärzte ohne Grenzen: Evakuierung von griechischen Lagern angesichts der Coronavirus-Pandemie dringender denn je
Ärzte ohne Grenzen warnen eindringlich vor den Konsequenzen eines Ausbruchs von Corona in den sogenannten Hotspots in Griechenland und fordern eine sofortige Evakuierung der Camps, um die Flüchtlinge und die Inselbewohner*innen zu schützen. Zum Aufruf

Factsheet: Das Vorgehen Griechenlands und der EU an der türkisch-griechischen Grenze
Seit Ende Februar erreichen wieder tausende Menschen die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland – die Vereinten Nationen gehen aktuell von mindestens 13.000 aus. Nach Medienberichten verhindern griechische Grenzsoldaten, zum Teil unter Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas und Blendgranaten, dass Menschen die türkisch-griechische Grenze überqueren. Das aktuelle Vorgehen Griechenlands an der Grenze zur Türkei ist nicht vereinbar mit völker- und menschenrechtlichen Grundsätzen, zu deren Einhaltung sich Griechenland verpflichtet hat. Des Deutsche Institut für Menschenrechte informiert in einem Factsheet über die Details. Zum Download

Eine aktuelle Reportage über Samos: „Greek Islanders want the refugee crisis over — and the migrants gone“ (16.03.2020, vice news)

Europas Schande – Direkt aus dem Lager Moria auf Lesbos”
Am 11. März 2020 fand unter dem Titel „Europas Schande – Direkt aus dem Lager Moria auf Lesbos” eine Online-Diskussion mit Erik Marquardt (Mitglied im Europaparlament und aktuell auf Lesbos), Carolin Emcke (Journalistin) und Carola Rackete (Sea-Watch) statt.  Link zur Aufzeichnung

Bundesländer könnten Zehntausende Flüchtlinge unterbringen
Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung hätte Deutschland die Mittel, sofort mehr als 25 000 Flüchtlinge in Erstaufnahmezentren aufzunehmen und unterzubringen. Mindestens 40 000 weitere Plätze könnten die Bundesländer darüber hinaus bereitstellen, ergibt eine SZ-Umfrage in den zuständigen Ministerien.  Die Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge sind also da, die Wirtschaft würde es verkraften, sagen Experten. Zum Artikel

Rechtsgutachten: Bundesländer können Schutzsuchende aufnehmen
Ein „Rechtsgutachten zur Zulässigkeit der Aufnahme von Schutzsuchenden durch die Bundesländer aus EU-Mitgliedstaaten“, erstellt von Helene Heuser, kommt zu dem Ergebnis, dass eine Aufnahme von Schutzsuchenden aus einem EU-Mitgliedstaat durch die Bundesländer rechtlich zulässig ist. Link zum Gutachten

Buchtipp: „Die Schande Europas – Von Flüchtlingen und Menschenrechten“
Der Soziologe Jean Ziegler beschreibt in seinem grade erschienenen Buch „Die Schande Europas – Von Flüchtlingen und Menschenrechten“ über die Bedingungen im Camp Moria auf Lsesbos und die politischen (Hinter-)gründe für die Situation der Flüchtlinge. Der Journalist Martin Gerner gibt eine gute Zusammenfassung im Bayrischen Rundfunk. Link zur Besprechung

Rat für Migration plädiert für neue Migrationspolitik
Angesichts der katastrophalen Bedingungen an der türkisch-griechischen Grenze hat der Rat für Migration eine Stellungnahme veröffentlicht. Darin appellieren die Wissenschaftler im Rat an die politisch Verantwortlichen, zum europäischen Asylrecht und damit zur Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren. Wir fordern ein Ende der Gewalt und Militarisierung der Grenzen und die Entwicklung einer Migrationspolitik, die diesen Namen verdient. Zur Stellungnahme

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Wir freuen uns, wenn wir weitere Ideen / Aktionen / Petitionen veröffentlichen können. Bitte schickt eine kurze Mail an Gabi Klein, gabi.klein@koeln-freiwillig.de

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Zur Autorin: Gabi Klein ist Mitarbeiterin der Kölner Freiwilligen Agentur. Im März und April 2020 war ein „Homeoffice“ auf Samos mit zeitgleichem Volunteereinsatz bei den Samos Volunteers geplant.
Das Homeoffice wurde wegen Corona nach Köln verlegt.

Link zu weiteren Infos, wie von Köln aus gehandelt werden kann

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