Mittwoch, 4. März 2020: Mein erstes Meeting bei den Samos Volunteers in diesem Jahr. Es findet einmal in der Woche statt und dient der Info und dem Austausch unter den ca. 40 Freiwilligen, die sich aktuell in der Initiative Samos Volunteers auf der griechischen Insel Samos in der Flüchtlingsarbeit engagieren.
Top 1: Die aktuelle Situation an der türkisch-griechischen Grenze und vor allen Dingen auf Samos. Seitdem die Türkei fünf Tage zuvor die Grenzen geöffnet hat, versuchen ca. 10.000 Flüchtlinge nach Griechenland zu kommen. Griechenland antwortet mit Tränengas, einem massiven Aufgebot an Polizei und Militär und dem Aussetzen des Asylrechts für einen Monat. Auf Lesbos und Chios blockieren Inselbewohner*innen den Bau von neuen Registrierungscentern und verwehren Booten mit Flüchtlingen das Anlegen. Geflüchtete, Freiwillige und Journalisten werden bedroht und angegriffen.
Auch auf Samos wird der Bau eines neuen Registrierungszentrums von Samioten blockiert und die Facebookgruppe „Save our Samos SOS“ macht Stimmung gegen Flüchtlinge und Freiwillige. Die Koordinator*innen der Samos Volunteers entwarnen uns – auf Samos ist es in Relation zu den anderen Inseln ruhig. Trotz allem ist die Stimmung angespannt.
Weitere Tops: Die Idee, eine Samos-Volunteers-Zeitung herauszugeben, in der die Besucher*innen des Alpha-Centers Bilder, Geschichten, Gedichte veröffentlichen können, die Information, dass eine große Spende mit Wolle nächste Woche verteilt wird, die Erinnerung, dass die Codes der Zahlenschlösser auf keinen Fall verstellt werden dürfen… irgendwann stand dann auch Corona auf der Liste.
Man merkt, auf Samos brennt es an ganz anderen Stellen als zu Hause.
Samos in Zahlen: ca. 32.000 Einwohner*innen, maximale Ausbreitung 44 km von Ost nach West und 19 km von Nord nach Süd; eine Universität und 1,7 Kilometer von der Türkei entfernt. Letztes macht Samos zu einem ersten Stopp für viele Flüchtlinge auf ihrem Weg von Asien nach Europa. Bis zum Jahr 2016 war es ein kurzer Stopp, nach einer ersten Registrierung wurden die Flüchtlinge nach wenigen Tagen von Samos zum Festland gebracht. Seit dem EU-Türkei-Abkommen im März 2016 ist alles anders. Das Abkommen sieht vor, dass vor einer Weiterreise geklärt wird, ob die flüchtenden Menschen Anspruch auf Asyl haben. Wer dieses hat, darf zeitnah weiterreisen, wer nicht, soll sofort in die Türkei abgeschoben werden. So die Theorie. Die Praxis gestaltet sich anders: Der Termin für die erste Anhörung zum Asylverfahren dauert ein, zwei, manchmal sogar drei Jahre. Bis dahin ist das Verlassen der Insel verboten.
Damit veränderte sich die Situation dramatisch: Samos wurde von einem kurzzeitigen Zwischenstopp zu einem erzwungenen Aufenthalt für die Flüchtenden. Inzwischen sind mehr als 7.000 Flüchtlinge in einem ehemaligen Militärcamp untergebracht. Dieses ist mit Containerunterkünften für 680 Personen ausgelegt, also viel zu klein. Daher behelfen sich die Menschen mit Zelten und notdürftigen, aus Paletten und Plastikplanen zusammengenagelten Hütten, die auf den Hängen rings um das Camp stehen. Die Bedingungen sind mies: Ein Arzt für 7.000 oft kranke und traumatisierte Menschen, kein Strom, zu wenige sanitäre Anlagen (200 Personen teilen sich eine Toilette), keine staatliche Müllentsorgung; Krankheiten und Ungeziefer können sich ungehindert ausbreiten und nicht bekämpft werden.
Für aktuell ca. 2.500 Menschen aus Syrien, 1.500 Menschen aus Afghanistan, 900 aus dem Kongo, 450 aus dem Irak, 200 aus Palästina und ca. 1.500 Menschen aus weiteren Ländern heißt es warten. Mehr als 3.700 Männer, 1.500 Frauen und 1.800 Minderjährige, davon fast zwei Drittel jünger als 12 Jahre überleben so. Ohne angemessene Unterkunft und Krankheitsversorgung, ohne Bildung, ohne Arbeitsmöglichkeit, ohne die Sicherheit, dass sich das Warten lohnt.
Dieser Zustand zermürbt, nicht nur die Geflüchteten, auch die Bevölkerung auf Samos. Von Anfang an haben sie die Flüchtlinge unterstützt. Es wurden auf die Schnelle Suppenküchen und Kleiderspenden organisiert und ein erstes Willkommen der Flüchtlinge sicher gestellt. Nach all den Jahren hat das Engagement der Griech*innen nachgelassen. Man kann es verstehen: Die Not entwickelt sich durch das nicht funktionierende EU-Türkei-Abkommen zu einem Fass ohne Boden. Schon vor zweieinhalb Jahren, als ich das Camp das erste Mal gesehen habe, war es für mich nicht fassbar, dass es so etwas in Europa gibt. Damals lebten ca. 2.500 Geflüchtete im Camp. Es hieß, es ändert sich, die Menschen werden auf das Festland überführt, die Zahl der Flüchtlinge lässt nach. Das Gegenteil trat ein: Das Camp wächst und wächst, die kleine Hafenstadt Vathi verwandelte sich von einer Übergangsstation zu einer langfristigen Unterkunft.
Vathi hat ca. 7.000 Einwohner*innen, ebenso viele wie das Camp im März 2020. Dieses ist an seiner stadtnahen Seite fünf Minuten vom Zentrum entfernt. Wenn man langsam geht. Überträgt man die Situation auf Köln, muss man sich eine stetig wachsende Zeltstadt im Rheinpark mit ca. einer Million Einwohner*innen vorstellen.
Es gibt keine Aussicht auf Verbesserung. Zwar kündigt die Regierung immer wieder Transfers auf das Festland an und damit eine Verkleinerung des Lagers. Aber die Transfers finden nicht in der angekündigten Menge statt und die Zahl der zufluchtsuchenden Menschen nimmt bekanntlich nicht ab. Das an anderer Stelle geplante und angeblich fast fertig gestellte Camp verspricht durch Container und sanitäre Anlagen eine Verbesserung der Unterbringung. Es wirkt auch im ersten Moment beruhigend, dass es für „nur“ 1.500 Menschen geplant ist. Allerdings ist es ein geschlossenes Camp, was den Vergleich zu einem Gefängnis nahe legt. Wenn dieses Camp ebenso überbelegt wird, die Wartezeit für das Asylverfahren und damit eine erhoffte Bewegungsfreiheit ebenso lange dauert wie aktuell, hält das Elend an, es wird nur nicht mehr so sichtbar sein wie im Moment. Zudem werden die Camp-Bewohner*innen nicht mehr an den Angeboten der zumeist ehrenamtlichen Initiativen und Organisationen, die in den letzten vier Jahren Angebote in den Bereichen Beratung, Bildung, Gesundheit und Alltagshilfen aufgebaut haben, teilnehmen können.
Es ist unsicher, was in den nächsten Wochen passieren wird. Während alle auf ein Signal aus der EU und vor allen Dingen auf ein weiterhin friedliches Miteinander auf Samos hoffen, geht der Alltag in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit auf Samos weiter.
In den letzten Jahren haben sich eine Vielzahl an freiwilligen Initiativen auf Samos gegründet. Einige sind auf der Insel entstanden, andere sind Ableger von NGOs, die schon an anderen Hotspots tätig waren. Wir werden in den nächsten Wochen einige der freiwilligen Initiativen auf Samos vorstellen.
Den Anfang wird nächste Woche ein Interview mit Bogdan Andrej machen. Er ist einer der drei Gründer der Samos Volunteers, die im Jahr 2016 als eine der ersten freiwilligen, internationalen Initiativen auf Samos entstanden ist.
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Weitere Infos:
Einen Einblick in die Stimmung der Bewohner*innen von Samos gibt der Bericht „Croissants und Tränengas“ in der Süddeutschen Zeitung vom 02.März 2020.
Im Bericht „Inside the island’s jungle“ (euronews, 20.05.2019) stellt Sarah, Universitätsdozentin aus Uganda, das Leben im Camp und ihre ehrenamtliche Arbeit bei den Samos Volunteers vor.
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Zur Autorin: Gabi Klein ist Mitarbeiterin der Kölner Freiwilligen Agentur. Im März und April 2020 macht sie „Homeoffice“ auf Samos und zeitgleich ihren zweiten Volunteereinsatz bei den Samos Volunteers.